Grüne Adidas-Trainerhose, rote Brille und Held*innenreise
Es ist 8 Uhr. Ich habe bereits 90 Minuten Mediation hinter mir. Die Vögel rufen uns zu. Ich weiss: Jetzt gibt es Frühstück. Wir stehen auf und gehen paarweise aus dem Zendo. Bis alle im Esssaal versammelt sind, dauert es. Zuerst zündet Beate Stolte, die Co-Leiterin des Seminars, ein Räucherstäbchen an und übergibt es dem Küchenchef. Dann wird eine Art Gebet aufgesagt und der Küchencrew gedankt. Mein Magen grummelt und ist das Ebenbild meines Geistes. Endlich dürfen wir uns bedienen. Noch nie war ein Frühstück so lecker. Ok, vielleicht etwas übertrieben. Aber es ist richtig gut und nahrhaft. Ich atme innerlich aus. Lautlos. Weil auch hier – kein Ton, ausser gelegentliches Schmatzen oder das Klappern des Bestecks.
Der Tag verläuft ruhig. Jedenfalls fast schweigend. Beim Samu – der gemeinschaftlichen Arbeit im und ums Haus – wird nur das Nötigste kommuniziert. Zum Beispiel, wenn es um Aufgabenverteilung oder -klärung geht. Wir arbeiten in Gruppen. Ich bin draussen eingeteilt. Wir sollen die Kieselsteine von den Holzspänen säubern, die bei der Renovation des Zendo zu Boden gefallen sind und jetzt die Kiesel wie eine braune Decke überziehen. Rund um das Haus. Wie, säubern? Besen geht ja nicht, sonst ist auch der Kies weg. Kleine Bürste? Staubsauger? Viel zu profan. Also von Hand und in der Hocke oder auf Knien. Holzspan für Holzspan. Hinterfragen, warum das tun sollen, bringt nichts, ausser Anspannung. Also frage ich nicht, wir schweigen ja sowieso. Ich bin immer noch hin- und hergerissen zwischen Faszination und Fluchtimpuls.






Nach dem Samu versammelt sich die Gruppe für eine Gehmeditation draussen. Das bedeutet, dass wir in Einerreihe durch die Landschaft gleiten. Der Weg, den wir nehmen, ist Trampelpfad und manchmal Wanderweg zugleich. Kühe stehen rum, kucken uns mit ihren sanften Augen an. Grosse Augen hingegen von Wandernden. Ich meine, es sieht ja schon etwas befremdlich aus, wie wir so im Entengang mit vor der Brust ineinandergelegten Händen herumwandeln. So von aussen betrachtet. So ganz Zen bin ich dabei nicht. Beate ist unbeeindruckt von den Zuschauenden und geht ruhigen Schrittes weiter. Wir auch. Ausscheren geht ja nicht. Ah doch, die Frau mit den Rückenproblemen muss pausieren. Die Arme hat offensichtlich Schmerzen.
Am Nachmittag: drei Stunden freie Zeit und eine Schreibaufgabe allein. Abends: Essen um halb sieben. Abendmeditation bis um halb neun. Bettruhe. Im Zimmer notiere ich, wie es mir geht. Draussen ist ein Gewitter vorbeigezogen. Etwa so geht es mir. Aber: ich bin noch da. Meine Hilflosigkeit ist weniger schlimm als am ersten Abend. Meine Nachrichten an die Aussenwelt werden weniger bissig. Und ich beschliesse zu bleiben. Dem Ganzen eine Chance zu geben. Es gab doch ein paar gute Momente in den letzten 24 Stunden. Und ich lerne im Eiltempo. Und das beim Zen. Schon ziemlich paradox, oder?
Eine Lektion lautet zum Beispiel: Die Zen-Mediation hat einen sehr geregelten Ablauf. Man kommt nicht einfach rein und setzt sich auf das Kissen.
Es geht so: Man verbeuge sich beim Betreten des Zendo, schreitet bedächtig zum Platz, verbeugt sich vor dem Kissen, drehe sich um und noch einmal Verbeugung zum Saal hin. Dann setzt man sich. Gesicht zur Wand. Mit einem Gongschlag geht es los. Schweigen. Gedanken kommen, Träume von vergangener Nacht erwachen zum Leben, fast schlummere ich ein, schwanke wie ein Schilfhalm im Wind, merke es und nehme wieder Haltung ein. Mein linkes Knie meldet sich, mein linkes Schulterblatt auch. Ich versuche mich, auf die Atemzüge zu konzentrieren, bemerke links von mir eine Bewegung, höre hinter mir ein lautes Schniefen. Jemand weint. Sofort sind meine Sinne dort. Ich versuche zu hören, wer es ist und gehe die Teilnehmenden im Kopf durch.
Da ist die leicht verrutschte Ärztin, die knapp zu spät kommt. Immer. Oder das Psychologen-Paar, das immer nur in Zweierformation auftritt. Oder die Kinderbuchautorin, die schon so viele Bücher herausgebracht hat, dass ich mich frage, wieso sie hier ist. Ist es vielleicht die Yogalehrerin? Wahrscheinlich ist es die Jugendpsychologin, die immer so windschief läuft. Ich weiss ja nichts von niemandem. Ausser der Vorstellungsrunde am ersten Abend sprechen wir nicht miteinander. Und da konnte ich mir ja auch nicht alle Infos merken. Zurück zur Meditation. Es wird nicht einfacher, je länger sie dauert. Gefühle sind nämlich eine willkommene Abwechslung. Manchmal macht ein Gedanke auch richtig traurig, manchmal muss ich innerlich Kichern. Oder dann kommt Wut. Auf mich und die Welt. Weil ich es nicht kann und die Gedanken nicht weniger werden. Weil es so anstrengend ist, ruhig zu sitzen. Weil es alle scheinbar locker nehmen. Ich sehne den Gongschlag herbei. Möchte meine tauben Beine bewegen und die Gehmeditation endlich antreten können, bevor es eine weitere Runde Sitzen gibt.
Am dritten Tag brechen wir das Schweigegebot. Denn Doris ist jetzt da.
Nach 48 Stunden still sein, ist es ungewohnt, die eigene Stimme zu benutzen. Und dann ist da ein Gefühl des Bedauerns. Als ob ich doch fast lieber auf Worte verzichten möchte, um diese Aufmerksamkeit nicht zu verlieren. Die Wahrnehmung ist viel schärfer, wenn wir nicht immer reden. Wer hätte gedacht, dass sich Schweigen so auswirken würde? Wieder eine Lektion.
Doris Dörrie: eine coole Frau in grüner Adidas-Trainerhose, roter Brille und verwuscheltem blondem Kurzhaarschnitt. Frühaufsteherin ist sie nicht, so viel steht fest. Sie verpasst nämlich am ersten Morgen nach ihrer Ankunft die erste Meditationsrunde. Dafür sind alle anderen Kissen besetzt.
A propos – das war auch etwas Neues für mich: Kissen im Zendo kann man “reservieren”. Wie die Strandliegen am Pool. Ist so passiert am Nachmittag der Ankunft, bevor es überhaupt losging. Denn die Sitzordnung bleibt von der ersten Mediation an gleich. Ich glaube nicht, dass das im Geist des Zen ist und wunderte mich.
Aber zurück zur Autorin und Filmemacherin: Sie erzählt von der sogenannten “Held*innenreise” in Geschichten und ihrem kreativen Schaffen. Gebannt hängen wir an ihren Lippen, als sie von improvisierten und chaotischen Drehs erzählt, oder wie sie sich beim Schreiben einer Geschichte von Situation zu Situation hangelt und keinen wirklich fixen Plan im Voraus hat. Wie sich die Geschichte von selbst entwickelt, ja fast ein Eigenleben hat. Grosse Augen, offene Ohren!
Das möchte ich auch können.
Jetzt eine Gruppenaufgabe. Wir sollen uns erinnern, an ein Essen aus der Kindheit, und uns danach die Texte vorlesen. Das Feedback soll wohlwollend und auf unsere Emotionen konzentriert sein, die der Text hervorruft. Keine Kritik im eigentlichen Sinn erlaubt. Ich merke, wie der Druck steigt. Zuerst die Hürde des Schweigens einigermassen bravourös genommen, ja sogar den Wusnch verspüren, weiter in Ruhe zu verweilen, und jetzt soll ich eine Erinnerung mit Wildfremden teilen? Ich soll eine Held*innenreise aus einer Erinnerung an ein Essen in der Kindheit machen? Natürlich denke ich wieder zu weit. Keine Dramaturgie gefragt, nur, dass wir so “sinnlich” wie möglich vom Essen erzählen. Das heisst, dass wir mit Sinneseindrücken beschreiben, bildhafte Vergleiche finden sollen, damit die Zuhörenden ein möglichst lebendiges Bild vor Augen haben, wie dieses Gericht gerochen, ausgesehen und geschmeckt hat. Und das innerhalb von zehn Minuten. Denn so hat sie selbst viele ihrer Texte geschrieben. In 10-Minuten-Häppchen. Weil es nicht anders ging.
Das eigene Schreiben mit anderen zu teilen, macht verletzlich. Ich zeige mich einem Publikum. Meine innere Kritikerin kommentiert oder zensuriert schon, bevor ich überhaupt etwas geschrieben habe. “Ach, wie banal.” oder “echt jetzt, das soll spannend sein?” Meine Schreibhemmung meldet sich. Ein Kind, das die Arme vor der Brust trotzig verschränkt und nicht zeigen will, was es kann. Könnte. Aus lauter Angst, das die anderen das doof finden, was ich erzähle.
Ich schreibe dann doch noch etwas. Und traue mich, es vorzulesen. Mit viel Herzklopfen.
PS: Schreiben und Schweigen mit Doris (Teil 1)
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